Was ist anomal?
PSI – ein Ausflug ins Unsichtbare:
Von Marion Mauthe
Ein Mann liegt halbwach auf seiner Couch. Ein roter
Lichtpunkt, der sich für Sekunden deutlich in die Buchstabenkombination
„Follow me” verändert, weist ihm den Weg aus seinem Haus, in die Dunkelheit
der Nacht, und gelangt schließlich zu einem Freizeitareal. Der Punkt läuft
weiter hinein in die Tiefe des Waldes, hält an einer laubbedeckten Stelle, wo
sich der Körper eines Mädchens abzeichnet. Der rote Punkt formt sich über der
linken Brust des Leichnams zu einem Herz, ehe das tote Kind unter den Blättern
versinkt… Der Mann schreckt von seinem Traum hoch. Es handelt sich um einen
Beamten des FBI, der anderntags an der angegebenen Stelle tatsächlich eine
Leiche entdeckt.
Daß die Fabriken in Hollywood sich der Produktion von
Träumen widmen, ist Gemeinplatz. Daß die Drehbücher der Fernsehserie „Akte
X” auf ungeklärte Fälle des FBI zurückgreifen, ebenso. Der Auslöser für
die amerikanischen Fernsehträumer ist freilich das neuerwachte Interesse an
Parapsychologie in Übersee, das mit Hilfe von New Age und Esoterik auch auf den
alten Kontinent übergreift. Die kürzlich aufgetauchten Geheimakten des CIA,
aus denen hervorgeht, daß der US-Geheimdienst beträchtliche Summen in die
Erforschung der Grenzgebiete der Psychologie investiert hat, setzt dem Törtchen
die Kandiskirsche drauf. Und tatsächlich bekam das Standford Research Institute
in Menlo Park, Kalifornien, den Auftrag von den zivilen und militärischen
Geheimdiensten der USA, die Technik des sogenannten „Remote Viewing”, zu
deutsch „Fernwahrnehmung”, zu entwickeln, um Personen zu trainieren,
vorwiegend geheimdienstliche Einrichtungen in anderen Ländern auszuspähen. Bis
Ende 1995, als ein Teil der streng geheimen Operationen bekannt gemacht wurde,
hatte man fast 25 Jahre lang diese Methode verfeinert und zahlreiche
Spezialisten zu „PSI-Spionen” ausgebildet.
Ein Beispiel: Ein sehr begabter Remote Viewer, Pat
Price, erhielt den Auftrag, eine geheime sowjetische Anlage in Kasachstan
auszuspähen. Price saß an seinem Schreibtisch in Kalifornien und skizzierte
industrielle Gebäude, einschließlich eines mehrere Stockwerke hohen
Spezialkrans, der sich auf übermannshohen Rädern auf Schienen fortbewegt. Die
CIA zeigte sich zutiefst verblüfft. Durch „herkömmliche” Agententätigkeit
kannte man das ungefähre Aussehen der Einrichtung – die Zeichnung eines
CIA-Graphikers zeigte die erstaunliche Übereinstimmung. Der Schwachpunkt dabei:
Was hat Pat Price „gesehen”, den Kran in Kasachstan oder das Bild des Krans
im Aktenordner des CIA? Oder in der Mappe des Graphikers oder gar in dessen
Gedanken?
Genie
oder Wahnsinn
Derlei Phänomene stellen nun die Wissenschaft vor die
Aufgabe, diesen den Nimbus der Scharlatanerie zu nehmen. Bisher steht fest, daß
außergewöhnliche Wahrnehmungen eine ständig und allgemein zugängliche Fähigkeit
darstellen, über die jeder Mensch verfügt. „Freilich kann jeder ein Liedlein
trällern”, meint Peter Mulacz, Generalsekretär und Vizepräsident der österreichischen
Gesellschaft für Parapsychologie mit Sitz in Wien, „doch nur einer wird
Pavarotti”. Damit stehen wir also vor dem allgemeinen Problem, Genie und
Begabung erklären zu wollen. Schließlich ist jedem Menschen schon einmal ein
Traum so deutlich in Erinnerung geblieben, daß er ihn beim Aufwachen zunächst
als tatsächlich erlebt empfunden hat. Oder es ist der Freund, den man gerade
anrufen wollte, am Telephon. Nichts an diesen Erfahrungen scheint außergewöhnlich
zu sein.
Die Psychologen freilich können die Wahrnehmungen
unterscheiden und haben eine Einteilung in drei Hauptbewußtseinszustände –
das Wach- oder Tagesbewußtsein, den Schlaftraum und den traumlosen Schlaf –
und in die veränderten Bewußtseinszustände getroffen. Wobei auch hier der
Spreu vom Weizen zu trennen ist. Veränderte Bewußtseinszustände erlebt jeder
Mensch jeden Tag kurz vor dem Einschlafen bzw. nach dem Aufwachen als
Schlaftrunkenheit. Hier wird weder das Tagesbewußtsein noch der Schlaf
erfahrbar, es handelt sich um ein Übergangsstadium, einen veränderten Zustand
– Erfahrungen also, die keineswegs nur überaus begabte oder sensitive
Menschen hervorzubringen im Stande sind. Die sogenannten „Sensitiven” (bzw.
Medien) hingegen sind dazu fähig, solche Bewußtseinszustände immer wieder
hervorzurufen. Die Wiederholbarkeit von Phänomenen, die in diesen Zuständen
vermehrt auftreten, ist Gegenstand der PSI-Forschung. Induziert werden können
sie aktiv einerseits durch Hypnose, Suggestion, Yoga, Meditation, autogenes
Training, andererseits durch Drogen und passiv durch Reizentzug oder Reizüberflutung.
Die sogenannten „Floatation Tanks”, die sich zunehmend auch in der
Psychiatrie großer Beliebtheit erfreuen – läßt sich doch damit zum Teil die
embryonale Phase nacherleben – sind ein Beispiel für Reizentzug: Der Proband
wird in einen sargähnlichen Wasserbehälter gelegt, der Deckel verschlossen und
die vollkommene Stille und Dunkelheit läßt keine Sinneseindrücke von außen
zu – der Körper schaltet quasi ab, es entstehen Bilder, die von innen, also
aus dem Unterbewußtsein kommen. Der deutsche Parapsychologe Rudolf Tischner
(1879–1961) bezeichnete diese so hervorgerufene Art der Wahrnehmung als
„Steigrohr des Unbewußten”. Vor allem ist es mit den sogenannten
„Ganzfeld-Versuchen” weitgehend gelungen, einen allgemein akzeptierten
Standard zu erreichen: Eine Testperson hört über Kopfhörer leises Rauschen
und blickt in ein einheitliches rosafarbenes visuelles Feld. Dieses wird durch
halbierte Tischtennisbälle über den Augen und eine Rotlichtquelle erzeugt.
Sehr rasch stellen sich durch diese monotone Sinnesreizung traumähnliche Bilder
ein. In solchen Zuständen gelingen telepathische Übertragungen mit einer nie
zuvor erreichten Genauigkeit.
„Jenseitskontakte”
Weshalb es den Parapsychologen so wichtig ist,
Anerkennung ihrer Disziplin im Rahmen der Wissenschaft zu finden, ist aus ihrer
Historie erklärbar. Der Begriff Parapsychologie geht auf den Vorschlag des
Berliner Psychologen und Philosophen Max Dessoir (1867–1947) aus dem Jahre
1889 zurück, „die aus dem normalen Verlauf des Seelenlebens heraustretenden
Erscheinungen parapsychische, die von ihnen handelnde Wissenschaft
Parapsychologie” zu nennen. Dessoir wollte mit dieser provisorischen
Bezeichnung eine Gruppe außergewöhnlicher Phänomene kennzeichnen, die in der
Kulturgeschichte zwar immer wieder berichtet wird, deren Existenz aber seit
jeher umstritten ist: Es handelt sich um verbreitete Erscheinungen und Vorgänge
wie Gedankenübertragung, Zweites Gesicht, Wahrträume, Ahnungen, Spuk- oder
Geistererscheinungen, die aber nicht krankhaft, also nicht als psychiatrische Fälle
zu sehen sind und zumeist als nicht-alltäglich und emotional besonders
bedeutsam eingestuft werden.
In der historischen Entwicklung der Parapsychologie
lassen sich drei Phasen unterscheiden:
Den Gegenstandsbereich der heutigen Parapsychologie
bildet eine Gruppe „anomal” anmutender Erlebnis- und Verhaltensweisen, die
unter dem Oberbegriff „PSI-Phänomene” zusammengefaßt werden (nach dem 23.
Buchstaben des griechischen Alphabets). Diese werden üblicherweise in zwei
Gruppen untersucht: als „PSI-Kognition” oder „Außersinnliche
Wahrnehmung” in den Formen
und als „PSI-Aktion” oder „Psychokinese”,
worunter die direkte Beeinflussung physikalischer oder biologischer Systeme in
Abhängigkeit von der Intention eines Beobachters ohne Beteiligung bekannter
naturwissenschaftlicher Wechselwirkungen verstanden wird.
Die Aufgabe der parapsychologischen Forschung besteht
darin, Erklärungsmodelle für behauptete PSI-Phänomene zu finden, worunter
auch konventionelle Erklärungen in Form von subjektiven Täuschungen oder
Artefakten fallen können. Im Unterschied zu einem weitverbreiteten Mißverständnis
hängt die Legitimität dieser Forschung also nicht davon ab, daß sich
„PSI” als hypothetisches Konstrukt verifizieren läßt.
Tischrücken
Einer der Auslöser für die Massenbewegung des
Spiritismus im vorigen Jahrhundert war ein Erlebnis der Kinder der Familie Fox,
die 1848 in Hydesville, einem kleinen Ort in Maine an der kanadischen Grenze,
das eigenartige Phänomen entdeckten, daß ein Tisch, auf den man ringsherum
eine Kette bildend die gespreizten Finger legt, lebendig zu werden beginnt und
z. B. auf gestellte Fragen durch Klopfen mit einem Tischbein Antwort gibt. Das hätte
an sich nicht besonders geheimnisvoll zu sein brauchen. Auch vor hundert Jahren
war man so gescheit zu wissen, daß unbewußte Muskelspannungen, zumal wenn sie
sich von mehreren Personen summieren, mancherlei überraschende Bewegungseffekte
hervorrufen können. So einfach sah man aber die Sache nicht an. Soeben hatte
der Begründer des Spiritismus in Amerika, Andrew Jackson Davis, sein erstes,
aufsehenerregendes Werk über den Verkehr mit der Geisterwelt erscheinen lassen.
Die Bereitschaft, Übersinnliches zu erleben, steckte sozusagen in der Luft.
Auch hatte es sich im Hause Fox gar nicht nur um das genannte Tischklopfen oder
-rücken gehandelt, sondern schon vorausgehend um rätselhafte Klopftöne in den
Wänden des kleinen Hauses, die auch eine Untersuchungskommission aus den
„gebildetsten Bewohnern von Rochester”, der unter anderen der bekannte
Lederstrumpf-Verfasser Fenimore Cooper angehörte, nicht auf natürliche Weise
erklären konnte.
Das neu entdeckte Tischrücken war so in einer Atmosphäre
des Übersinnlichen geboren worden und breitete sich zusammen mit ihr in einer
erstaunlichen Schnelligkeit aus. 1850 schrieb der amerikanische Korrespondent
einer Bremer Zeitung darüber, wenige Monate später war es in allen europäischen
Städten bekannt. Überall bildeten sich Zirkel, Gesellschaften, Gemeinden;
schon die Neugier ließ niemanden ruhen, es nicht auch einmal zu versuchen. Es
war ja so einfach, ein Gesellschaftsspiel, das etwas Gruselig-Unheimliches an
sich hatte. Das meist stark abgedämpfte Licht kam der gemeinsamen Stimmung in
jeder Hinsicht entgegen. Man setzte sich eng um ein kleines Tischchen, die
Fingerspitzen leicht aufgesetzt, die Kleinfinger der Nachbarn berührten sich,
damit es eine Kette wurde, und wartete, bis früher oder später ein feines
Knistern im Tisch hörbar wurde, die erste bedeutungsvolle Ankündigung des
Kommenden. Dann aber kam mit einem Male Leben in den Tisch: Er zitterte,
schwankte, hob abwechselnd die Beine, begann sich zu drehen oder gar im Zimmer
herumzuspazieren. Ein findiger Kopf, Isaac Port, war als erster auf die Idee
verfallen, die Klopflaute des Tisches mit dem Alphabet durchzuzählen, sodaß
der Tisch Wörter und Sätze buchstabieren konnte. Auf diese Weise erhielt man
ganze „Botschaften” eines fremden, intelligenten Wesens, das allerdings im
allgemeinen von genau derselben Intelligenz und Bildung war, wie die übrigen
Sitzungsteilnehmer jeweils auch.
Pikante
Unterhaltung
Bisweilen soll es aber angeblich auch anders gewesen
sein. Man hört von hellsichtigen Mitteilungen, ja von Bekundungen Verstorbener,
die ihre Anwesenheit in dem Tisch anzeigten. Es war schließlich nie genau zu
sagen, was bei der Sitzung herauskommen würde. Ein etwas makabres Spiel,
reizvoll für ein glaubensmüde gewordenes Bürgertum, das diese halb-ernste
unverbindliche Beschäftigung mit dem „Jenseits der Seele” liebte. Seine
Reichweite erstreckte sich von der Gesellschaft junger Ladenmädchen über die
Salons des guten Bürgertums bis in die Hofgesellschaft der europäischen Fürstenhöfe
– auch Kaiserin Elisabeth nahm an spiritistischen Sitzungen teil – und was
hier vor sich ging, zeigte alle Schattierungen von einer Totenbeschwörung bis
zur pikanten Abendunterhaltung. So meint ein guter Beobachter aus jener Zeit:
„Sicherlich amüsiert man sich in den spiritistischen Soiréen der eleganten
Welt gar oft. Wenn diese Sitzungen bei Dunkelheit stattfinden und zur Verstärkung
des Fluidums bunte Reihe gebildet wird, so kommt es nicht selten vor, daß die
Herren momentan den Zweck der Sitzung vergessen und sich der Versuchung
hingeben, die Kette der Hände zu unterbrechen und eine andere zu schließen.
Die Damen und jungen Mädchen sind mit Vergnügen dabei, und fast niemand
beklagt sich…”
Auch Thomas Mann schrieb Mitte der zwanziger Jahre
unseres Jahrhunderts seine Erfahrungen bei den Séancen des Freiherrn
Schrenck-Notzing nieder, an denen er wiederholt teilnahm. Daß selbst der kühle,
norddeutsche Denker sich diesem „Thrill” hingab, mutet seltsam an und war es
auch – ebenso seltsam wie die heutige Beschäftigung in Freizeitparks und bei
Computerspielen. Der Baron freilich war sehr exklusiv. Nicht alle durften
kommen, es kam darauf an, wen er einlud. Und das waren in erster Linie Gelehrte,
vor allem Universitätsgelehrte, erst dann sonstige Intellektuelle, wie
Schriftsteller und Künstler, aber das waren zumeist seine persönlichen
Freunde. Der Freiherr, der sich ein Palais in München errichten ließ – das
übrigens heute noch steht – arbeitete unter anderen mit dem aus Braunau am
Inn gebürtigen Medium Willy Schneider. Sowohl er als auch später sein Bruder
Rudi wurden in parapsychologische Experimente eingebunden. In Trance versetzten
sich die beiden durch Hyperventilation, also extrem schnelles Atmen. In ihren
Sitzungen konnten Gegenstände ihren Platz verändern, Spieldosen gehorchten den
Anordnungen der Sitzungsteilnehmer. Als solcher schrieb Mann seine Eindrücke
nieder („Okkulte Erlebnisse”, erstmals 1923 erschienen): „He, du
verstecktes und lichtscheu-undenkliches Wesen aus Traum und Materie, was treibst
du da vor unserer Nase? Knacks, wird der Hebel gewendet, das Spielwerk geht.
,Kommandieren Sie Halt!’ sagt der Baron. Und auf mein Wort wird abgestellt.
,Los!’ Die Dose spielt. Dies einige Male. Man sitzt vorgebeugt und kommandiert
das Unmögliche, läßt sich von einem Spuk gehorchen, einem scheuen kleinen
Scheusal von hinter der Welt…”
Und mit seinen Essays und Vortragsreihen über das
Okkulte – auch im „Zauberberg” wird eine spiritistische Sitzung
geschildert – fand die Parapsychologie als wissenschaftliche Disziplin in
Thomas Mann einen glaubwürdigen Fürsprecher: „Ganz ähnlich wie in der
Politik gibt es im Verhalten der Wissenschaft zum Okkultismus ein ,Rechts’ und
ein ,Links’, eine starr konservative und eine radikal-umstürzlerische
Gesinnung und Willensmeinung — nebst zahlreichen Übergängen und
Abschattungen zwischen den Extremen des verstockten Ableugnens aller rational
unerklärlichen, aber immer wieder gemeldeten und verbürgten Erscheinungen
(…) und andererseits einer fanatisch-kritiklosen Leichtgläubigkeit, die
weniger auf gefaßter Ehrfurcht vor dem Geheimnis, als auf inhumaner Gehässigkeit
gegen Vernunft und Wissenschaft beruht.”
Geisterphotographie
Auch August Strindberg blieb nicht unberührt vom
Zeitgeist und gab an, er habe photographische Selbstporträts und die seiner
Tochter Anne-Marie (1904) mit der „Wunderkamera” gemacht. Dabei sollte die
aurische Emanation der abgelichteten Person nicht durch eine Glaslinse gehindert
werden, in die Kamera einzudringen, und sich auf der Photoplatte oder dem
Rollfilm niederschlagen. Wenn auch viele Porträts von Herman Anderson stammen,
glaubt man, diese Ausstrahlung zu erkennen, die sich wie ein Geheimnis auf die
Photographien gelegt hat.
Strindberg bediente sich einer damaligen
Modeerscheinung: der Geisterphotographie. Die Spukerscheinungen im Haus der
Familie Fox und die Erfindung der Photographie lagen nur zehn Jahre auseinander.
Es dauerte allerdings bis zum Beginn der sechziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts, bis beide Disziplinen zum ersten Mal zusammenfanden. Interessant,
daß sowohl die Parapsychologie wie die Photographie bis in unsere Tage mit
ihrer Anerkennung kämpfen – die eine als natur-, die andere als
integrativwissenschaftliche Disziplin. Und bis heute existiert noch kein
Lehrstuhl für die Geschichte und Theorie der Photographie an einer deutschen
Universität ebenso wenig wie es einen deutschen Lehrstuhl für Parapsychologie
gibt.
Es waren zwei Ereignisse, die Photographie und
Parapsychologie zusammenführten: Beim Versuch, die von Reichenbach behaupteten
Od-Strahlen – nach Reichenbach ein „duftiger Hauch”, der von sämtlichen Körpern
der belebten und unbelebten Natur ausgestrahlt werden kann – auf der
lichtempfindlichen Schicht sichtbar zu machen, war die Photographie in ihrer
Funktion als Beweismittel gefragt. In diesem Fall spielte sie eine dienende
Rolle. Die erste Geisterphotographie, die Mumler mit Hilfe der Doppelbelichtung
anfertigte, war dagegen ohne das Medium Photographie nicht möglich. Nur die
Photographie war in der Lage, das Phänomen als solches hervorzubringen. Hier
spielte sie also die Hauptrolle.
„Elektrographie”
In der Kunsthalle Krems zeigt die Ausstellung „Im
Reich der Phantome – Fotografie des Unsichtbaren” erstmals unter anderem die
erst kürzlich wiederaufgefundenen Originale der Sammlung Darget, des Pioniers
der Fluidalphotographie, die die Faszination der Geschichte des Zusammenwirkens
von Photographie und paranormalen Phänomenen aufschlußreich dokumentiert. Es
handelt sich tatsächlich um einen abenteuerlichen und spannenden Teil der
Geschichte des homo sapiens mit all seinen Ängsten und Hoffnungen, mit seiner
Bereitschaft zu täuschen und sich täuschen zu lassen, aber auch mit seiner
Sehnuscht, über seine irdische Existenz hinauszugelangen.
Zu der Ausstellung der Kunsthalle Krems gibt es ein
attraktives Rahmenprogramm. So hielt Peter Mulacz Ende März einen Dia-Vortrag
mit dem Titel „Parapsychologie – gestern und heute”, der nach einem kurzen
Überblick über die moderne Parapsychologie diese historischen Verflechtungen
zwischen Okkultem und Photographie verfolgt und insbesondere die
Materialisationsphotos der Periode Schrenck-Notzing, die auch einen Schwerpunkt
der Ausstellung darstellen, thematisierte. Am 9. Mai wird zu einem weiteren
Vortrag geladen: Einer der in der Kunsthalle ausgestellten Künstler, Bernhard
Johannes Blume, der mit mehreren Werkgruppen die unfreiwillige Komik der alten
Geisterphotos durch kalkulierte Ironie ersetzt, spricht um 19.30 Uhr zum Thema
„transzendentale Photographie”.
Als Erklärungsmodell, warum die Arbeiten auf dem
Gebiet der mediumistischen Photographie in den zwanziger Jahren dieses
Jahrhunderts enden, könnte die Annahme von Rudolf H. Krauss in seinem Buch
„Jenseits von Licht und Schatten” dienen, wonach „im Mediumismus die
Periode des Sehens in den dreißiger Jahren von einer Periode des Schreibens und
diese wiederum später von einer des Hörens abgelöst wurde” –
automatisches Schreiben und Aufnahmen auf Magnetbändern prägen heute vordergründig
das Interesse am Unsichtbaren. Peter Mulacz gibt ein anderes Erklärungsmodell,
wonach diese Zäsur mit einer Diskontinuität aufgrund der politischen
Ereignisse zusammenhängt: Nach der Errichtung des Dritten Reiches in
Deutschland wurde die Zeitschrift für Parapsychologie eingestellt. Die letzten
parapsychologischen Experimente führten Eugène und Marcel Osty in der
Nachfolge Schrenck-Notzings durch, da gab es so gut wie keine Parapsychologie
mehr in Deutschland. Dann kam die Zäsur des Zweiten Weltkrieges. Schrencks
Paradigma – oder allgemein das der Zwischenkriegszeit – war ein
biologistisches. Nach dem Krieg wurde jeglicher biologistischer Ansatz negiert,
klingt er doch nach Blut und Boden, Eugenik, Lebensborn.
Zusätzlich sind aus den USA neue Paradigmata hinzugekommen.
Doch zur Jahrhundertwende wurden nicht nur durch
Kunstgriffe bei der Ausarbeitung die sogenannten Geister- und Fluidalphotos
erzeugt, Experimente mit Elektrographien und deren Rezeption in der Wissenschaft
prägten das Bild auf diesem Gebiet. So nahm der Pole Jodko-Narkjewicz an, daß
durch den elektrischen Strom die „Nervenkraft” des Menschen
„herausgetrieben” werde. Sie bestimme die Form der elektrographischen
Figuren und zeige den psychischen Zustand von Menschen an: Den Testpersonen
wurden mit Salmiakgeist gefüllte Glasröhrchen mit einem Kupferkern in die eine
Hand gedrückt, die andere legten sie auf eine photographische Platte. Durch
Verbindung von positivem und negativem Pol über den menschlichen Körper
erhielt Jodko Bilder, die angeblich die Antipathie und Sympathie zweier Menschen
sichtbar machen konnten, indem sich die Strahlenbüschel zwischen den Händen
der Personen als einander zu- oder abgeneigt interpretieren ließen.
Den Gegenbeweis trat 1898 Emil Jacobson in der
„Photographischen Rundschau” an: „Hat Jodko dies beim Menschen
bewiesen…, so bin ich weiter gegangen und habe nachweisen können, daß Liebe
und Haß sich auch in der Tierwelt elektrographisch feststellen lassen.” So
zeigt die publizierte Abbildung einer Elektrographie zwei offenbar befreundete
Engerlinge. „Als ich nun die Tiere aufeinander hetzte – wofür ich alle
Vivisektionsfeinde um Vergebung bitte – erhielt ich folgendes Bild glühenden
Hasses…”. Auch der letzte Versuch Jacobsons soll die Theorie, der
elektrische Strom an menschlichen Kadavern erzeuge keine Strahlen mehr, ad
absurdum führen: „Schließlich zog ich aber den letzten Schluß und
elektrographierte animalische Materie, von der ich annehmen durfte, sie wäre in
ihrem Zustand gewißlich tot und damit aller seelischen Regungen bar… Auch der
Unbefangenste wird in der folgenden Abbildung ein klassisches Beispiel von
Antipathie erkennen müssen! Nicht sind es menschliche Finger, die ihrem
Widerwillen gegeneinander elektrographisch Ausdruck geben, nein es sind – Würstchen!
Wiener Würstchen, und zwar von zwei Konkurrenzschlächtern gekauft.” In einer
Anmerkung dazu heißt es: „Das Würstchen links leuchtet wenig, es scheint kränklich,
oder, nach Jodkos Anschauung, gelähmt zu sein…”
Doch all diese Experimente mit dem neuen Medium
Photographie hatten immensen Einfluß auf die moderne Kunst. So hat der
vergessene Commandant Louis Darget mit seiner kleinen Schrift „Exposé des
différentes méthodes” und einigen Farbklischees, die er im Jahr 1913
Kandinsky schicken ließ, eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf dessen
Abstraktion gehabt. Der Symbolismus wiederum hatte die mediumistische und
spiritistische Photographie ziemlich schnell für sich okkupiert und sie in eine
zeitgemäße Ästhetik umgesetzt. Erst die Avantgarde des 20. Jahrhunderts,
allen voran Anton Giulio Bragalia, dann Christian Schad, Man Ray, El Lissitzky,
Coburn und Moholy-Nagy mit ihrem Sinn für das Groteske, Traumhafte und Absurde,
Humoreske und Visionäre, schließlich für das, was unsichtbar ist, eröffneten
neue Horizonte der Photographie. Moholys geisterhafte Köpfe um 1926
beispielsweise, seine Hände- und Blumenphotogramme sind ikonographisch nicht
nur ganz in der okkultistischen Tradition, sondern Teil eines neuen Konzepts,
das Organismen, Artefakte, Raumzeit-Relation und Licht als Teile einer gesamten
kosmischen Bestimmung versteht.
Wer nun glaubt, das alte Geisterphoto der
Jahrhundertwende habe sich verflüchtigt, es gebe dieses ausschließlich noch
als ästhetische Imagination der Kunst, der irrt. Gerade dort, wo man am
wenigsten an Halluzinationen und an die Erscheinung von Übersinnlichem denkt,
im Bereich der Reportage, in der Welt der neuen Fakten, politischen und
menschlichen Dramen und der wissenschaftlichen Beweise, türmt sich neues
Photomaterial: Heute sind es Aufnahmen aus dem Marko- und Mikrokosmos, die den
Bereich des Wunders tangieren.
Und seit die Bilder digital bearbeitet werden, können politische Begegnungen arrangiert werden, die es nie gab. Die Abrufbarkeit der Geister ist quasi unbeschränkt.
ã
Kulturzeitschrift morgen